Blaumaus

Musikalisches Märchen und Hörspiel
für Kinder ab 6 Jahren

Text: Hildburg Schmidt
Musik: Dirk Raulf
Ausstattung: Matthias Wagner K

Uraufführung 5. Januar 2003
Kleines Haus der Städt. Bühnen Münster

Hörspiel-Erstsendung 1. Mai 2003
"Papageno"/WDR

Sprecher:
Hildburg Schmidt
Thomas Anzenhofer



Das Märchen erzählt von der Maus Lumin mit den blauen Augen, von ihren Abenteuern im schwarzen Wald mit dem Gartenschläfer Eli Bilch, mit Bubo, dem Uhu, mit dem Maulwurf Talp und dem Kaninchen Kuni Kanin; es erzählt von dem Heer der Norrats, der grauen Ratten, die in der Unterwelt wohnen, und von einem uralten Spruch, der Wirklichkeit wird.

Blaumaus
von Hildburg Schmidt

Blauer Blick
bringt dir Glück,
bringt dir Leid,
schwere Zeit,
blaues Licht,
Traumgesicht,
treibt dich fort
zu dem Ort,
wo nur Nacht,
bis sie lacht.

Es gibt viele Sorten von Mäusen:
Hausmäuse, Feldmäuse, Spitzmäuse, Haselmäuse, Weiße Mäuse, Wühlmäuse, Wüstenmäuse, Waldmäuse, Brandmäuse, Zwergmäuse, Zugmäuse, Stadtmäuse, Taschenmäuse, Blindmäuse, Schlafmäuse, Rennmäuse, Hüpfmäuse, Springmäuse, Singmäuse ­ und sicher noch viel viel mehr; sie bauen für sich und ihre Kinder gemütliche Nester aus allem, was weich und kuschelig ist; es gibt Mäuse, die unter der Erde wohnen, Mäuse, die sich ein kugeliges Grasnest bauen, manche wohnen in Höhlen, unter Baumwurzeln, auf Dachböden, in Kellern. Alle haben ein weiches Fell, einen langen Schwanz, runde Ohren, scharfe Nagezähne und schwarze Knopfaugen.

Aber eine Maus gibt es, die ist anders. Sie hat blaue Augen. Nicht rot, nicht braun, nicht gelb, nicht grün, nicht grau, nicht schwarz, leuchtend blau. Diese Maus hat den Blauen Blick. Ja...

Über den Dachboden eines alten Hauses huscht die Maus Mura Murida:

Mura: "Hab ich auch nichts vergessen? Käseraspeln, Speckstückchen, Körner, Nüsse, Beeren, Pilze, Brot- und Kuchenkrumen, Kräuter, Wurzeln, der Saal unter den Dielen ist geschmückt, die Leuchtkäfer sind da, die Grillenkapelle, fehlen nur noch die Gäste. Oh, da höre ich sie schon kommen, und ich muss die Kinder noch putzen! Heute ist ihr großer Tag. Der Tag der Augen- und Ohrenöffnung. Hoffentlich hat auch die Jüngste endlich die Augen aufgemacht. Schnell schnell zum Nest! ­ Hilfe, da muss jemand sein! Irgendwer leuchtet da drin mit einer blauen Lampe! Überfall! Ich muss die Kinder retten! Raus da, wer immer du bist! Ich beiße! Da ist ja gar niemand; das Leuchten kommt mitten aus dem ­
nein! ­ oh ­ die Kleine hat ­ Leuchtaugen?
So was gibt's nicht! Ich muss ein wenig verschnaufen. Jetzt mach ich erst mal die Augen zu. Wenn ich sie wieder aufmache, wird das Licht verschwunden sein. So. Jetzt. Augen auf! Nein. Ja. Die Kleine hat ­ hat ­ ja! Den blauen Blick!
Blauer Blick
bringt dir Glück,
bringt dir Leid...
So haben wir als Kinder gesungen. Aber dass es das wirklich gibt... ­ Ich darf jetzt nicht darüber nachdenken. Kommt schnell schnell alle sieben! Raus aus dem Nest! Gleich wird euer Ururgroßvater Uri euch eure Namen geben. Haltet die Köpfe hoch, stellt die Ohren auf, und schaut ihm in die Augen. Nein, du, Kleine, warte. Ich bind' dir ein Läppchen über die Augen, sonst erschrecken die Gäste. So. Huch ist das dunkel auf einmal! Stolpert nicht! Du, Kleine, halt dich fest an meinem Schwanz. Hört ihr? Euer Vater pfeift. Das ist das Zeichen. Alle sind da und warten auf euch. Kommt mit!"

Der große Augenblick ist da: sie betreten den Festsaal. Alle haben sich hinter dem Sitz des alten Uri versammelt, alle Onkel, Tanten, Vettern und Basen aus der Stadt, aus Wald und Feld, ja sogar eine Hausratte, RatRat, der Schöne, in seinem schwarzen Pelz, und ein Gartenschläfer mit buschigem Schwanz und einer Maske vor den Augen, der Räuber Eli Bilch.

Ein wenig ächzend richtet Uri sich auf und hebt die Pfote. Er sieht nicht mehr so sehr gut, deshalb bemerkt er die Augenbinde der siebten Maus erst einmal gar nicht (Eli Bilch, der Räuber, sieht sie natürlich sofort!). Den Mäuschen zittern die Pfötchen, als Uri sich jetzt räuspert:

Uri: "So, ihr Kleinen, nun tut erst mal einen ordentlichen Pfiff! Na das war ja schon ganz gut! Und jetzt schön der Reihe nach! Du bist die Älteste, du sollst Musa heißen. Die Zweite: Musca. Der Dritte: Usus. Der Vierte: Uscus. Der Fünfte: Cus. Der Sechste: Culus. Die Siebte ­ ... sieh mich an, Mäuschen! Was ist denn mit deinen Augen los?"

Mura: "Ich habe ihr die Augen verbunden, verehrter Uri, aber sie ist nicht etwa krank! Dieses Kind hat eine besondere Gabe mitbekommen. Nehmt die Binde ab, schaut und wählt dann den Namen."

Uri: "Das ist, ja! Außerordentlich! Wie soll ich dich nur nennen? Ul? Nein! Lu! Lumin! Du sollst Lumin heißen. Lumin, die Leuchtende. Ja. Dein Name ist Lumin Blau. Das blaue Licht wird dich in die Herzen aller Wesen sehen lassen. Und nicht nur das. Es hat große Kraft. Ja, kleine Lumin, du wirst es noch spüren. Und jetzt wollen wir feiern! Jetzt kommt das große Beschnuppern! Auf zum Nasentanz!"

Uri und Mura:

Mausebein ­ müffelt fein!
Mausehaar ­ wunderbar!
Mausepfoten, Mauseohren,
Mausekäse, Mausedreck,
Mauseloch und Mausezähne,
Mausepfiff und Mausespeck,
Mausenase, Mauseschwanz,
ja, das ist der Nasentanz!


Uri: "Kommt da noch jemand? Hilfe! Die Norrats!"


Die Norrats:
Wir sind die Ratten,
wir kommen aus dem Schatten!
Wir sind die Ratten,
die nicht ermüden noch ermatten!
Die Ratten,
die nie- und nimmersatten ­
wir sind die Ratten, die Ratten,
die noch niemals Angst hatten.

Grosse Norra:
Ratten wie der Sand am Meer,
Rattenbrut und Rattenheer,
Rattenpack und Rattenmeute
Ratten machen fette Beute.

Ratten haben Kriegerherzen,
Ratten kennen keine Schmerzen,
Ratten kennen keine Freunde,
Ratten haben tausend Feinde.

Ratten lauern in Kanälen,
Ratten beißen durch die Kehlen,
Ratten jagen in der Nacht,
Ratten sind aus Haß gemacht.

Rattenmut und Rattenwut,
Ratten schlürfen warmes Blut.
Ratten bringen Pest und Not,
fürchten Teufel nicht noch Tod.

Norrats:
Wir sind die Ratten,
wir kommen aus dem Schatten!
Wir sind die Ratten,
die nicht ermüden noch ermatten!
Die Ratten,
die nie- und nimmersatten ­
wir sind die Ratten, die Ratten,
die noch niemals Angst hatten.


Die Anführerin der Wanderratten, die große Norra, schlägt mit ihrem schuppigen Schwanz auf den Boden, blinzelt tückisch mit den Augen, fletscht die gelben Zähne.

Norra: "Lieber Uri! Leider haben wir das Beschnuppern verpasst, aber das wollen wir nun nachholen, damit wir die Kleinen immer wiedererkennen und sie beschützen können, sollten sie in der Unterwelt in Schwierigkeiten geraten."

Mura: "Hier sind die Kinder: Musa, Musca, Usus, Uscus, Cus, Culus."

Norra: "War da nicht noch ein siebentes Kind? Ich möchte keines vergessen!"

Mura: "Ein siebtes? Seht ihr eins?"

Norra: "Kommt! Was wir suchen, ist hier nicht."

Norrats:
Wir sind die Ratten,
wir kommen aus dem Schatten!
Wir sind die Ratten,
die nicht ermüden noch ermatten!
Die Ratten,
die nie- und nimmersatten ­
wir sind die Ratten, die Ratten,
die noch niemals Angst hatten.


Uri: "Uff, sie sind weg!"

Mura: "Lumin! Lumin! Wo hast du dich versteckt? Du kannst wieder rauskommen. Lumin! Wo ist Lumin geblieben? Und wo ist Eli, der Räuber hin? Ja, RatRat? Weißt du etwas?"

RatRat: "Nein, aber ich werde mich darum kümmern. Ich finde sie bestimmt. Vertrau mir."

Und wo ist Lumin Blau? Sie sitzt auf dem Rücken des Räubers und jauchzt vor Vergnügen.

Lumin: "Das geht ja wie der Wind! Du kannst aber rennen Eli Bilch! Uups, das war aber ein Riesensprung! Und klettern kannst du auch! Das geht ja immer höher! Klettern wir jetzt zu den Lichtern da oben? Ist das die Decke von einem riesigen Haus?"

Eli: "Das heißt Himmel. Und was so leuchtet, Sterne. Und das dicke Ei da oben, Mond."

Lumin: "Eli?"

Eli: "Ja?"

Lumin: "Warum hast du mich geschnappt und weg?"

Eli: "Wanderratten! Norrats! Kamen ohne Einladung. Hörte sie, roch sie. Kenne sie. Keine Moral, kein Gesetz, keine Ehre. Dürfen nichts wissen von dir. Weiß nicht wie, aber denke, die haben was gehört. Müssen was machen. Schnell."

Lumin: "Warum?"

Eli: "Damit sie dich nicht kriegen. Die Norrats."

Lumin: "Warum sollen die mich nicht kriegen?"

Eli: "Üble Burschen. Würden werweißwas mit dir machen."

Lumin: "Was?"

Eli: "Könnten dich auffressen. Muss dich beschützen. Frag nicht soviel."

Lumin: "Warum?"

Eli: "Muss jetzt denken."

Lumin: "Warum?"

Eli: "Kannst nicht hierbleiben. Norrats gute Nasen. Kommen vielleicht hierher. Schlau!"

Lumin: "Ist es wegen dem Licht?"

Eli: "Vielleicht."

Lumin: "Warum?"

Eli: "Ratten mögen keine Leuchtaugen!"

Lumin: "Warum?"

Eli: "Weiß nicht. Finstere Gesellen."

Lumin: "Hörst du das?"

Eli: "Nein. Was?"

Lumin: "Hör doch hin!"

Eli: "Ich hör nix."

Lumin: "Aber ich hör's doch. Da ruft wer."

Eli: "Nix zu hören."

Lumin: "Doch, jemand ruft mich. Der Uhu. Der Uhu ruft."

Eli: "Unsinn! kann man hier nicht hören."

Lumin: "Doch. Er ruft mich!"

Eli: "Was??"

Lumin: "Hörst du's nicht?"

Eli: "Nein. Sei mal still. Hör was ganz anderes. ­
Da kommen welche. Viele. ­
Die Norrats! Weg! Wald!"

Eli kennt hier jeden Stein, jeden Busch, jeden Baum, jedes Haus. Er schlüpft durch Zaunlücken, rennt unter den Hecken entlang, dabei wittert er unaufhörlich, spitzt die Ohren und späht umher, ob nicht irgendwo eine Gefahr droht.

Sie erreichen den Waldrand. Aber Eli denkt nicht daran zu verschnaufen. Er hat noch einen weiten Weg vor sich. Er muss bis ins Herz des großen Waldes, dorthin, wo die alte Eiche steht, denn in einer Höhle ihres Stammes wohnt der Uhu Bubo. Bubo ist der König des Nachtwaldes. Wenn er auf der Jagd ist, bleibt man besser in seinem Versteck, denn lautlos kommt er heran und blitzschnell packt er zu. Ist er aber satt, kann man zu ihm gehen und ihn um Rat fragen, ja sogar um seinen Beistand bitten. Und nun ist der Räuber auf dem Weg zu ihm, und trotz seiner großen Worte, ist ihm mulmig zumute. Und nicht nur wegen des Uhu. Fuchs und Katze, Marder, Iltis und Wiesel, Waldkauz und Steinkauz sind jetzt unterwegs, um für sich und ihre Jungen die nötige Nahrung zu erjagen. Und Mäuse sind ihre Lieblingsspeise.

Eli: "Achtung! Kommen gleich zu einer Lichtung. Nehmen Abkürzung. Unten durch. Rein ins Loch. Bisschen eng für mich! Hier wohnt Talp. Der Maulwurf. Gänge überall."

Talp: "Graben, schaufeln, drücken. Graben, schaufeln, drücken. Graben, schaufeln, drücken. Wer ist da? Oh, ich rieche Bilch! Eli Bilch! Was willst du hier? Oh, du hast Licht mitgebracht? Ich kann es sehen. Blaues Licht."

Lumin: "Das sind nur meine Augen, lieber Talp. Ich bin Lumin und muss zum Uhu. Bitte, hilf uns."

Talp: "Ja dann, kommt mit! Graben, schaufeln, drücken. Graben, schaufeln, drücken."

Talp rennt, was seine Beinchen und Grabeklauen hergeben, vorbei an Wohnhöhlen, Vorratskammern und Kinderstuben. Lumin und Eli kommen kaum mit.

Talp: "So, weiter geht's nicht. Aber gleich nebenan wohnt Kuni Kanin. Vielleicht kann er euch weiterhelfen. Seine Gänge gehen bis zum Bach. Soll ich durchstoßen?"

Eli: "Ja, schnell! Ersticke fast!"

Lumin: "Ja, los!"

Und wie es los geht!

Talp: "Graben, schaufeln drücken, graben, schaufeln, drücken, graben, schaufeln drücken..."

Talps Grabeklauen arbeiten so schnell, dass man sie kaum noch sieht. Er bohrt sich förmlich durch die Wand und landet mit einem Plumps auf dem Rücken des Kaninchens.

Kuni: "Hilfe! Räuber! Räuber! Nix wie weg wie weg!"

Talp: "Friede, Friede! Ich bin1s! Talp! Verzeihung!"

Lumin: "Bitte, Kuni Kanin, wir brauchen dich. Wir müssen zu Bubo! Er hat gerufen.. Ich bin Lumin Blau."

Kuni: "Oh, du, du hast, ja! wie schön! Alles, was du willst! du willst! sofort!"

Talp: "Dann verabschiede ich mich. Graben, schaufeln, drücken!"

Kuni: "Ja, weiß schon, weiß schon. Ich bring euch bis zum Brombeergebüsch am Bach. Dann kommt der Schwarze Wald. Das is ein Spaß, ein Spaß! Hört ihr den Bach? den Bach? Tschüss, ich geh trommeln, hihi, trommeln. Das is ein Spaß! Ein Spaß!"

Lumin: "Auf Wiedersehen Kuni, Danke!"

Kuni: "Ein Spaß!Ein Spaß!"

Eli: "Weiter. Müssen jetzt durch Schwarzen Wald."

Lumin: "Schwarzen Wald?"

Eli: "Wie, weiß nicht. Giftig."

Lumin: "Giftig?"

Eli: "Kann man nicht atmen. Da gibt's kein Tier."

Lumin: "Außenrum?"

Eli: "Außenrum zu weit. Muss es schaffen. Irgendwie."

Lumin: "Eli, ich hab Hunger. Da ist was, das riecht süß."

Eli: "Hm. Erdbeeren. Gut, könnte auch was brauchen. Niemand zu riechen, niemand zu sehn. Alles ruhig. Duck dich. Gehen zum Bach."

Aber etwas gleitet aus dem Brombeergebüsch ihnen nach. Lautlos. Kalt. Ein langer glatter Leib mit einer gezackten Linie auf dem Rücken. Das ist Peri, die Kreuzotter, deren Biß sofort tötet.

Peri richtet sich auf. Zischt. Gleich wird sie zustoßen, und dann ist es um die kleine Maus geschehen.

Lumin bleibt ganz ruhig.

Lumin: "Willst du mich fressen?"

Peri zischt und fährt auf Lumin los, die behende zur Seite hüpft.

Lumin: "Oh ja, lass uns Fangen spielen!"

Wieder stößt Peri zu und wieder ins Leere.

Eli: "Nimm mich, Peri. Lumin, lauf!"

Eine Wolke zieht über den Mond. Peri lächelt. Eli steht starr vor Schreck.

Ein Flügelschlag. Die Kreuzotter fühlt Eisenklauen um ihren Hals. Sie wird hochgerissen. Der Uhu fliegt mit seiner Beute zurück zur Eiche, wo er ein Festmahl hält.

Eli: "Das ­ puh ­ war knapp! Schluß mit Rast. Bald Morgen. Keine Gefahr mehr. Schwarzer Wald, na ja ­ muss gehen. Irgendwie. Lumin? Lumin, wo bist du? Lumin! Lu..."

Lumin: "Ich fliege."

Eli: "Was? Kannst doch nicht ...Wo bist du?"

Lumin: "Hier oben! Siehst du? Bleib da und warte auf mich. Ich fliege über den schwarzen Wald. Ich fliege zu Bubo.
Danke, dass du mich mitnimmst. Wie heißt du? Wer bist du? Du bist kein Vogel. Du siehst aus wie eine Vogelmaus, eine Flügelmaus, eine Flattermaus!"

Myo: "Ich bin Myo Myo Großohr aus der Familie der Fledermäuse. Ich soll dich über den schwarzen Wald tragen? Du willst zu Bubo? Bist du lebensmüde? Er wird dich fressen."

Lumin: "Wird er nicht. Er hat mich gerufen. Hab keine Angst."

Myo: "Hab ich doch! Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um."

Lumin: "Setz mich einfach auf den höchsten Ast der Eiche. Du kannst mich dann ruhig allein lassen."

Myo: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu! Wenn's gefährlich wird, spring einfach vom Baum. Besser zu früh als zu spät. Myo Myo fängt dich auf. Versprochen. Ich setze dich jetzt ab. Denk dran, besser Vorsicht als Nachsicht!"

Jetzt ist die kleine Maus allein. Sie streicht sich den Pelz glatt, und läuft schnell dorthin, wo Bubo, still wie ein Stein, mit geschlossenen Augen wartet.

Lumin: "Hier bin ich. Du hast mich gerufen. Warum?"

Der Uhu öffnet die Augen. Riesig und gelb starren sie Lumin an. Aber die Blaumaus zittert nicht.

Lumin: "Warum hast du mich gerufen, du Alter, Weiser, Mächtiger?"

Bubo: "Ich brauche deine Hilfe. Der Wald stirbt. Viele Tiere sind schon verschwunden. Viele sind schon lange verstummt. Früher, in der Dämmerung, hörte ich viele fröhliche Gesänge, Rufe, Pfiffe, Geräusche. Es war wie ein großes Orchester mit vielen tausend Instrumenten. Wenn ich das so doch noch einmal hören könnte."

Lumin: "Was soll ich denn tun?"

Bubo: "Geh du zu den Norrats. Sie leben in der Finsternis. Da unten bereitet sich etwas Schlimmes vor. Das könnte unser aller Ende sein. Ja. Und schick deine Freunde zu den Katzen, den Füchsen, den Rehen, den Krähen, den Elstern, den Eichhörnchen, ­ zu allen Tieren. Wenn der Mond voll ist, sollen sie kommen. Königsruf! Tierfrieden!"

Unruhig hat Eli beim Bach unter dem Brombeerbusch gewartet. Plötzlich richtet er sich auf. Er hört Flatterflügel.

Lumin: "Lieber Räuber, hier bin ich wieder ­ aber gleich muss ich weiter ­ zu den Norrats. Bubo will sie bei sich sehen, wenn der Mond voll ist. Und auch alle Elstern, Eichhörnchen, Katzen, Füchse und Rehe ­ und alle sonst. Königsruf! Tierfrieden! ­ bitte sorg dafür, dass alle kommen. Morgen, wenn der Vollmond am Himmel steht, sehen wir uns bei Bubo."

Myo: "Lumin, ich bin müde. Ich bring dich jetzt in unsere Höhle. Da ist ein Eingang in die Unterwelt."

Die Fledermaushöhle, ein altes Gewölbe, liegt unter einem Grashügel am Stadtrand. Der Morgen graut. Myos Geschwister hängen schon kopfunter an der Decke. Er fliegt mit Lumin tief in das Gewölbe hinein. Ganz hinten ist ein Loch im Boden. Der Eingang in die Unterwelt.

Myo: "Lumin, hier geht es nach unten zu den Norrats. Hörst du das Rauschen? Das ist der unterirdische Fluß. Paß auf, dass du nicht hineinfällst! Er reißt alles mit sich fort. Wasser hat keine Balken! Spitz die Ohren, geh deiner Nase nach. Und merk dir: wie kommt man zum Ziel? Schritt für Schritt."

Lumin: "Wie kommt man zum Ziel? Schritt für Schritt."

Myo: "Und vergiß nicht: Finsternis ist nur da, wo das Licht nicht hinkommt."

Lumin: "Danke, Myo Myo. Oh er ist schon fort. Also ins Loch! Huch, das glitscht! Hier stinkt's. Das ist der Fluß. Weiter. Nach unten. Es riecht nach Norrat. Da kommt wer. Das ist doch, ja, RatRat der Schöne; der Schwarze! RatRat, hilf mir! Ich muss zur Großen Norra."

RatRat: "Lumin Blau! Wie kommst du hierher? Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht. Aber jetzt bin ich bei dir. Mach die Augen zu! Ich werde dich tragen."

Lumin: "Da laufen aber viele Norrats hinter uns her. Sind wir da? Kann ich die Augen jetzt aufmachen?"

RatRat: "Nein! Große Norra, du siehst, ich halte mein Verbre... mein Versprechen, ich liefere dir Lumin Blau aus. Jetzt mach mich zum Großen Nor, wie du es versprochen hast. Wir beide werden die Herrscher des Tierreichs werden. Wir werden..."

Lumin: "RatRat, bitte sieh mich an und sei still. Große Norra, eine dringende Botschaft von Bubo: Morgen Nacht, wenn der Mond voll ist, treffen sich alle Tiere bei Bubos Eiche. Königsruf. Tierfrieden."

Norra: "Ah! Die Friedensmaus. Tierfrieden! Ja. Du sollst eine wichtige Stellung im Rattenstaat bekommen. Wenn es stimmt, was man erzählt, kannst du schlecht und gut mit einem Blick deiner blauen Augen unterscheiden. Du wirst unser Vorkoster. Giftprüfer. Wachen! Führt sie an unsere Futterplätze! Dort darfst du alles ausprobieren. Wenn sie weglaufen will, beißt ihr den Kopf ab. An die Arbeit!"

Norra + RatRat:
Ratten haben Kriegerherzen,
Ratten kennen keine Schmerzen,
Ratten kennen keine Freunde,
Ratten haben tausend Feinde.


Lumin: "Langsam werde ich müde. Überall Gift. Fleisch: Giftig. Körner: Giftig. Der Boden: Giftig. Gemüse: verschimmelt. Ich glaube, wir haben jetzt alle eure Vorratsräume gesehen. Ich muss zurück zur Norra. Schnell."

RatRat:
Ratten lauern in Kanälen,
Ratten beißen durch die Kehlen,
Ratten jagen in der Nacht,
Ratten sind aus Haß gemacht.
Schwestern, ...

Lumin: "Hört ihr das?"

RatRat: "Brüder, ..."

Lumin: "RatRat hält eine Rede!"

RatRat: "...Kampfgenossen! Die große und weise Norra ist abgetreten. Ich bin jetzt der Große Nor. Wir Ratten sind stark, wir sind schlau, wir sind viele. Laßt uns alles ausrotten, was sich uns entgegenstellt. An der Buboeiche schlagen wir zu. Tod und Sieg! ist unsere Losung. Tod und Sieg!"

Ratten: "Tod und Sieg! Tod und Sieg! Tod und Sieg!"

Und was tut Lumin Blau? Sie sitzt ganz still und hält die Augen geschlossen. Sie fühlt, wie sich ihr Herz verdunkelt.

Lumin: "Aber ich habe doch das Licht! Finsternis ist nur da, wo das Licht nicht hinkommt. Augen auf! ­ Hört mir zu! Fürchtet euch nicht! Geht aus eurem Bau hinaus. Seht euch die Welt an. Seht, wie schön sie ist, hört, spürt, riecht! Lebt, liebt, lacht und spielt!
RatRat, wo ist die Norra? RatRat, was hast du mit ihr gemacht? Komm zu mir, RatRat.
Sieh mir in die Augen. Und jetzt sage deinen Freunden, was du wirklich vorhast."

RatRat: "Die Norra muss weg. Alle müssen weg! Alle. Auch die Norrats. Ich werde siegen! Ich allein werde die Welt beherrschen. Dann wird es nur noch eine Stimme geben: Meine. Sieg und Tod! Ich hasse alles, was lebt! Ich hasse. Ich hasse."

Schaum steht RatRat vor der Schnauze. Er peitscht mit dem Schwanz, peitscht sich selbst, fängt an, mit seinem eigenen Schwanz zu kämpfen, wird immer wütender und beißt ihn schließlich ab, rast nach oben, zum unterirdischen Fluß, rennt dorthin, wo das Wasser in die Tiefe stürzt, wirft sich hinein...

RatRat: "Sieg und Tod!"

... und ist verschwunden.

Die Große Norra liegt gefesselt in einer tiefen, mit schwarzem Wasser gefüllten Grube. Die Norrats sind wieder zur Vernunft gekommen. Sie ziehen die alte Anführerin heraus. Die sieht sie voll Verachtung an:

Norra: "Einer Maus verdanke ich meine Freiheit. Freilich du, Lumin, siehst Dinge, die wir nicht sehen können. Du hast recht. Wir leben in der Finsternis.
Ich gehe jetzt mit Lumin. Wenn der Mond aufgegangen ist, bin ich bei der Buboeiche. Ich mache Frieden mit allen anderen Tieren. Wer mit mir kommen will, der komme. Steig auf, kleine Maus, ich trage dich."

Der Vollmond steigt am Himmel empor. Auf allen Ästen der riesigen Buboeiche sitzen große Raubvögel, auf hohen Buchen warten Elstern, Krähen und Tauben, die übrigen Bäume ringsum sind bis in die Spitzen besetzt von Singvögeln und Fledermäusen, aber auch von Siebenschläfern und anderen Bilchen, Eichhörnchen, Mäusen und Katzen.

Auf dem Waldboden sitzen nebeneinander ­ ein ganzes Tieralphabet!
Aale, Ameisen, Auerhähne, Blindschleichen, Biber, Chinchillas, Dachse, Enten, Füchse, Gänse, Hasen, Igel, Kröten, Läuse, Marder, Nattern, Otter, Pirole, Quappen, Rehe, Schnecken, Trappen, Unken, Vipern, Waschbären, Xylophone, Yaks, Zecken und..., und..., alle, alle Tiere sind gekommen.

Talp, Kuni Kanin, Eli Bilch, der alte Uri und Mura Murida mit Musa, Musca, Usus, Uscus, Cus und Culus warten zusammen am Fuß der Eiche.

Und da kommen die Norrats ­ eine riesige Schar, sie schwänzeln herbei ­ ­
und setzen sich friedlich zwischen die anderen Tiere, und es sind so viele, dass sie noch weit in den Wald hinein den Boden bedecken wie ein großer, atmender Fellteppich.
Über allen aber schwebt eine große Wolke von Insekten.

Und dann wird es still, denn Bubo tritt ins Mondlicht und öffnet weit die Augen. Lumin aber sitzt zwischen den Klauen des Uhu und läßt den blauen Blick über die Versammlung schweifen.

Bubo: "Ich lebe nun schon seit langer langer Zeit in diesem Wald. Viele Pflanzen, die hier einst wuchsen, viele Tiere, die einst hier lebten, sind verschwunden. Die Ordnung der Natur ist gestört. Es ist noch nicht zu spät. Aber wenn wir nicht Frieden halten, wird einmal die ganze Welt so aussehen wie der Schwarze Wald.
Lumin? Was ist mit dir?"

Lumin: "Ich, hihi, ich freu mich so, hihi, weil alles so schön ist, hihihi, ich muss lachen!"

Und Lumins Lachen ist so hell und ansteckend, dass alle, alle mitlachen, auch die Norrats und sogar Bubo, der gar nicht wußte, dass er lachen kann. Der Boden bebt, die Bäume schütteln sich, das blaue Licht scheint durch die Nacht zu tanzen, sogar der schwarze Wald leuchtet und belebt sich und lacht, Blätter sprießen aus den schwarzen Zweigen, der Boden bedeckt sich mit Gras und Blumen, alle Wesen lachen, die Nacht selbst, ja, sogar der Mond und die Sterne.

Blauer Blick
bringt dir Glück,
bringt dir Leid,
schwere Zeit,
blaues Licht,
Traumgesicht,
treibt dich fort
zu dem Ort,
wo nur Nacht,
bis sie lacht.

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